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Handhabung der Gesundheitsfragen beim Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung

Handhabung der Gesundheitsfragen beim Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung

Fehlende Gesundheitsfragen und Offenbarungsobliegenheit

Verzichtet der Versicherer erkennbar auf Gesundheitsfragen, so existiert auch keine Verpflichtung, von sich aus Angaben zu den nicht erfragten Umständen zu machen. Dies gilt auch dann, wenn die nicht erfragten Umstände offensichtlich Einfluss auf die Entscheidung des Versicherers zum Vertragsschluss haben werden, also gefahrerheblich sind (Oberlandesgericht Karlsruhe Urteil vom 20. April 2018, Az: 12 U 156/16).

Der Sachverhalt

Der an Multipler Sklerose (MS) erkrankte Versicherungsnehmer schloss 2010 eine Berufsunfähigkeitsversicherung mit einer monatlichen Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 1.000 € ab. Anstatt der üblichen Gesundheitsfragen enthielt das Antragsformular unter der Überschrift "Bei Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsminderungsrenten bis 12.000 €" folgende Erklärung:

"Ich erkläre, dass bei mir bis zum heutigen Tage weder ein Tumorleiden (Krebs), eine HIV-Infektion (positiver AIDS-Test), noch eine psychische Erkrankung oder ein Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) diagnostiziert oder behandelt wurde. Ich bin nicht pflegebedürftig."

Und weiter heißt es:

"Ich bin fähig, in vollem Umfang meiner Berufstätigkeit nachzugehen."

Der Versicherungsnehmer setzte sein Kreuz bei diesen Erklärungen, da bei einer aktuellen betriebsärztlichen Untersuchung keine Leistungseinschränkungen festgestellt wurden.

Unter den Erklärungen erschien im Fragebogen folgender Hinweis:

"Kann diese Erklärung nicht abgegeben werden, beantworten Sie bitte die Fragen gemäß Formular A122."

Das Formular A122 enthielt sodann zahlreiche Gesundheitsfragen. Unter anderem wurde hier auch nach "Krankheiten des Gehirns, Rückenmarks oder der weiteren Nerven", also nach neurologischen Erkrankungen, gefragt. Weil der Versicherungsnehmer die Erklärungen über dem Hinweis auf den Fragebogen A122 jedoch angekreuzt hatte, füllte er das Formular mit den weiteren Gesundheitsfragen nicht aus, obwohl er bereits zu diesem Zeitpunkt von seiner Erkrankung MS wusste.

Zwei Jahre später, es ging ihm schlechter, beanspruchte er BU-Leistungen. Er gab an, wegen der MS nicht mehr in der Lage zu sein, den zuletzt ausgeübten Beruf als Orthopädietechniker auszuüben. Der Versicherer lehnte die Leistungen ab und erklärte die Arglistanfechtung sowie Rücktritt und hilfsweise Kündigung.

Landgericht bestätigte Arglist wegen vorgeblich verschwiegener MS

Im Klageverfahren bestätigte das Landgericht Heidelberg die Vertragsanfechtung des Versicherers als wirksam und unterstellte dem Versicherungsnehmer damit Arglist. Die Richter meinten, dass die Gefahrerheblichkeit der MS offensichtlich sei. Der Versicherungsnehmer sei nach Treu und Glauben auch ohne ausdrückliche Frage im Gesundheitsbogen des Versicherers zur Anzeige seiner MS verpflichtet gewesen.

Oberlandesgericht bestätigt ebenfalls Anfechtbarkeit – jedoch mit anderer Begründung

Die Berufungsrichter beim Oberlandesgericht (OLG) wiesen die Berufung des Versicherungsnehmers zurück. Sie bejahten ebenfalls die Anfechtbarkeit wegen Arglist, bemühten jedoch einen anderen Begründungsansatz: Anfechtungsgrund konnte aus deren Sicht nur die Erklärung sein, in vollem Umfang berufstätig sein zu können.

Juristisch spitzfindig die Argumente des OLG: Die Krankheit MS an sich sei kein anzeigepflichtiger Umstand. Die fehlende Angabe der MS war also nicht arglistig. Denn durch die spezielle Gestaltung des Antragsformulars sei für den Versicherungsnehmer objektiv erkennbar gewesen, dass Angaben zu neurologischen Erkrankungen nur dann nötig gewesen wären, wenn die Jahresrente mehr als 12.000 € betragen hätte.

Bei unter 12.000 € liegender Versicherungsleistung – wie in diesem Fall - habe der Versicherer daher erkennbar auf die bestimmte Frage nach neurologischen Erkrankungen verzichtet.

Begründung für die dennoch vorliegende Arglist durch das OLG ist spitzfindig

Die Begründung des OLG für das Vorliegen von Arglist zeigt jedoch deutliche Schwächen und wirkt herbeigeschrieben:

Bei der laienhaften Einschätzung des durchschnittlichen Versicherungsnehmers komme es entscheidend darauf an, ob der Orthopädietechniker seinen Beruf objektiv betrachtet "gänzlich uneingeschränkt" ausüben kann. Es komme nicht darauf an, ob dieser den Beruf aus betriebsärztlicher Sicht - trotz gewisser Beeinträchtigungen - noch ausüben durfte oder ob es Krankschreibungen gab oder nicht.

Denn das medizinische Gutachten aus dem Prozess habe bestätigt, dass der Versicherungsnehmer bereits im Jahr 2010 wegen Koordinations- und Motorikstörungen bei einigen Teiltätigkeiten seines handwerklichen Berufs beeinträchtigt gewesen sei und diesen somit nicht mehr in vollem Umfang nachgehen konnte.

Die betriebsärztliche Bescheinigung hielten die OLG-Richter sogar für "fragwürdig".

grauer Hintergrund
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Wir halten die Entscheidung des OLG für falsch

Wenn es für die Auslegung der Bedingungen auf das laienhafte Verständnis des durchschnittlichen Versicherungsnehmers ankommt, dann muss es auch hinsichtlich der vom Versicherer geforderten Bewertung des Leistungsvermögens auf das laienhafte Verständnis des Versicherungsnehmers und nicht auf das Verständnis des gerichtlichen Medizinsachverständigen ankommen.

Der Versicherungsnehmer ging seinem Beruf zum Antragszeitpunkt 2010 - trotz MS-Erkrankung - noch in vollem Umfang nach, fühlte sich dazu (noch) befähigt und durch die betriebsärztliche Untersuchung in dieser Sichtweise bestätigt. Aus seiner (laienhaften) Sicht waren seine Angaben damit völlig zutreffend.

Wir finden die Formulierung im Fragebogen "Ich bin fähig, in vollem Umfang meiner Berufstätigkeit nachzugehen." missverständlich und bewerten das als unzulässige Risikoverlagerung auf die Versicherungskunden.

Das Versicherungsprodukt mit Bumerang-Effekt

Auf den ersten Blick scheint das streitgegenständliche Versicherungsprodukt möglicherweise attraktiv. Für niedrigschwellige Berufsunfähigkeits-Absicherungen bis 12.000 € Jahresrentenbeträge erweckt das Produkt den Eindruck, mit diesem unkompliziert und ohne aufwändige Gesundheitsangaben Versicherungsschutz erlangen zu können.

Jedoch kommt der harmlos wirkende Satz "Ich bin fähig, in vollem Umfang meiner Berufstätigkeit nachzugehen." wie ein Bumerang zum Kunden zurück.

Gesundheitsangaben können die BU-Versicherung gefährden

Generell sind unvollständige oder falsche Gesundheitsangaben ein häufig unterschätztes Risiko für Vertragsfortbestand und Versicherungsleistungen in der Berufsunfähigkeitsversicherung. Die Versicherer verlagern die zum Antragszeitpunkt gebotene Risikoprüfung einfach auf einen späteren Zeitpunkt.

Die vorvertraglichen Gesundheitsangaben werden dann einfach nach der Leistungsanmeldung durch den Versicherer akribisch geprüft und meist wird dieser dann auch fündig.

Besonders bei relativ jungen Verträgen verwenden die Versicherer viel Mühe, Aufwand und Zeit auf entsprechende Nachforschungen. Denn Leistungsfreiheit und Vertragsende schützen aus Sicht des Versicherers auch die Interessen der Versichertengemeinschaft. Ergeben sich während der Leistungsprüfung aus

  • den Krankenakten der Ärzte,
  • der Daten der Krankenversicherungen oder aus
  • den Krankenunterlagen ihrer Kunden

verwertbare Anhaltspunkte, so gerät die Leistungsprüfung zum Desaster und endet für die Kunden mit einer bitteren Pille: kein Arbeitseinkommen, keine Berufsunfähigkeitsrente, keine Vertrag.

Spontane Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers ist nicht zu unterschätzen

Der Fall des Orthopädietechnikers war deshalb besonders, weil der Versicherer gerade nicht vergessen hatte, nach einer bestimmten Erkrankung zu fragen. Vielmehr wurden die Gesundheitsdaten im eigenwillig gestalteten Antragsbogen stufenweise abgefragt. Derartige Formulare sind ausgesprochen selten.

In der Praxis viel häufiger hingegen ist folgende Konstellation: Im Fragebogen sind die Gesundheitsfragen recht allgemein gefasst und erfassen bestimmte Erkrankungen gerade nicht. In diesen Fällen kann es auf die sogenannte spontane Anzeigepflicht ankommen. Die Kunden sind von sich aus zu Gesundheitsangaben verpflichtet, wenn die Gefahrerheblichkeit der Erkrankung evident ist.

Dabei muss sozusagen "auf der Hand liegen", dass dieser Fakt die Vertragsgestaltung beeinflussen und der Versicherer beispielsweise

  • Risikoausschlüsse,
  • Beitragszuschläge oder gar
  • Antragsablehnung

überdenken würde. Das wird wohl bei schwerwiegenden oder chronischen Grunderkrankungen, um eine solche handelt es sich bei MS, stets anzunehmen sein.

Wäre der Antragsbogen des Orthopädietechnikers nicht - wie eingangs beschrieben - stufenweise ausgestaltet gewesen, so hätte das OLG die Vertragsanfechtung bei unerwähnt gebliebener MS vermutlich ohne Zögern bestätigt. Die hierfür erforderliche Gefahrerheblichkeit läge auf der Hand: Der Versicherungsnehmer litt nämlich bereits unter den Krankheitssymptomen.

Unsere Empfehlung: Doppelt prüfen und Leistungen für den Ernstfall absichern

Hand aufs Herz: Wer erinnert sich bei Gesundheitsfragen betreffend der letzten 5, 7 oder gar 10 Jahre wirklich an alle Einzelheiten zu ärztlichen Konsultationen, medizinischen Behandlungen und Krankschreibungen?

Sinnvoll kann es sein, beim Krankenversicherer ein Leistungsverzeichnis bzw. Patientenquittungen oder bei den behandelnden Ärzten Krankenakten in Kopie anzufordern, diese zu sichten und eventuell auch entsprechende Dokumente komplett dem Antragsbogen beizufügen.

Dadurch kann es gelingen, die Leistungsprüfungsrisiken im Falle späterer Berufsunfähigkeit mit Erfolg zu minimieren. Somit könnten Arglist- und Vorsatzvorwürfe von vornherein besser vermieden oder zumindest entschärft werden und die Berufsunfähigkeitsrenten aus der BU-Versicherung wären wirklich sicher.

Melden Sie sich bei uns – wir sind auf Ihrer Seite!

Sollten Sie Probleme mit Ihrer BU-Versicherung haben, sind wir für Sie da. Unsere Fachanwälte für Versicherungsrecht sind seit Jahren auf Berufsunfähigkeitspolicen spezialisiert. Für Sie finden wir möglicherweise doch noch einen Weg und helfen dabei, Verträge zu retten und Rentenzahlungen zu erzwingen.